Es war mal wieder Silvester und es hat mal wieder so laut geknallt, dass der Nachhall noch viele Tage später quer durch Deutschland zieht. Um all denen den Wind aus den Segeln zu nehmen, die jeder und jedem gleich unterstellen, man wolle die Wahrheit nicht aussprechen, sondern sie vielmehr verschweigen, wenn in aufgeheizter Stimmung eine differenzierte Betrachtung angemahnt wird, sei klargestellt: Selbstverständlich ist es nicht hinzunehmen, wenn Feuerwehr, Polizei und Rettungskräfte im Einsatz mit Feuerwerkskörpern beschossen oder beworfen werden. Es ist in großem Maße sozialschädlich, wenn Menschen auf diesem Weg in Gefahr gebracht oder gar verletzt werden, wenn Einsätze damit behindert werden und wenn wütende Mobs reihenweise Sachbeschädigungen begehen. Daher gehören Täter – in der Silvesternacht waren es wohl ganz überwiegend bis ausschließlich Männer – bestraft, wenn ihnen die Taten nachzuweisen sind. Da gibt es auch kein Problem mit der bestehenden Gesetzeslage. Da ist das Gesetz zu vollziehen.
Wer bei diesem widerlichen Verhalten aber ausschließlich auf die Silvesternacht blickt und mit dem Finger auf Eingewanderte zeigt, weil das rüpelhafte Verhalten in Berlin wohl zu einem großen Teil von jungen Männern ohne deutsche Staatsangehörigkeit ausging, oft aus Afghanistan oder Syrien kommend, läuft Gefahr, Herkunft zu bestrafen, und nicht Fehlverhalten. Wer dann noch, wie die sich im Wahlkampf befindende Berliner CDU, die Vornamen der Krawallmacher der Silvesternacht veröffentlicht sehen will, um auf diesem Weg ganze Gruppen von Eingewanderten an den Pranger zu stellen, dem scheint der Rechtsstaat nicht mehr wichtig zu sein. Dass der Vorsitzende der CDU, Friedrich Merz, dazu schweigt und seine Berliner Parteifreunde nicht zurückpfeift, macht diesen Vorgang nicht ungefährlicher.
In der Silvesternacht 2022/23 gab es in mehreren deutschen Städten Krawalle. Zum Beispiel im sächsischen Borna. Es wird berichtet, dass etwa 200 Menschen randalierten, die Polizei mit Feuerwerkskörpern beschossen, Rathausfenster einwarfen, einen Kiosk beschädigten. Eine überregionale Beachtung haben diese Ereignisse trotzdem kaum gefunden, schon gar nicht in dem Maße, in dem die Exzesse von Berlin beachtet wurden. Dass die Union im Landtag nach den Vornamen der Täter fragte, ist mir bisher nicht bekannt. Auch schweigt der Vorsitzende der CDU dazu. Herr Söder aus Bayern hat nicht vom Chaos-Staat Sachsen gesprochen. Warum? Weil sie nicht glaubten, dass unter den Tätern von Borna Eingewanderte sein könnten.
Wenn ich manchmal samstags mit dem RegionalExpress durch Nordrhein-Westfalen zu einem Termin fahre, dann nehme ich häufiger Horden betrunkener Männer auf dem Weg zum Fußballstadion oder auf dem Rückweg vom Spiel wahr. Sie grölen und pöbeln und versauen die Züge. Mitreisende sind regelmäßig verängstigt, befürchten Opfer von Gewalt zu werden und versuchen deshalb, im Zug so viel Abstand wie möglich zu diesen Rüpeln zu halten. Auf meinen vielen Bahnfahrten komme ich gelegentlich mit dem Zugpersonal ins Gespräch. Dass auch Beschäftigte der Bahn sich nicht mehr trauen, pöbelnde und randalierende Fußballfans im Zug zurechtzuweisen, wurde mir dabei schon häufiger berichtet. Aber nachhaltige Diskussionen über diesen seit Jahren zum Wochenendalltag gehörenden Zustand gibt es kaum. Niemand will hier die Vornamen der Rüpel veröffentlichen. Warum? Ich habe da eine Vermutung: Weil dabei zu viele Uwes, Michaels und Thorstens herauskämen.
Gleiches gilt für das Münchner Oktoberfest. 55 Sexualdelikte wurden der Polizei vom letzten Oktoberfest 2022 angezeigt. 34 tätliche Angriffe gegen Polizistinnen und Polizisten wurden auf dem Volksfest registriert, 20 Polizistinnen und Polizisten wurden laut Bericht der Münchner Polizei verletzt. Dass im Bayrischen Landtag nach den Vornamen der Beschuldigten gefragt wurde, ist mir bisher nicht bekannt geworden. Eine breit angelegte Debatte zu Gewalt und Respektlosigkeit auf dem wohl größten Volksfest Deutschlands? Fehlanzeige.
Warum aber gibt es zu diesen Vorgängen keine ebenso engagierten Diskussionen wie zur diesjährigen Berliner Silvesternacht? Warum wird bei Exzessen von nicht hinzunehmenden Respektlosigkeiten mit zweierlei Maß gemessen? Da scheint noch einiges zu tun zu sein. Wer sich nicht rassistisch verhalten und den Rechtsstaat in Frage stellen will, der setzt in der öffentlichen Debatte auf mehr Prävention – auf bessere Bildung, auf weniger Ausgrenzung, auf mehr Teilhabechancen. Und der setzt sich kompromisslos dafür ein, dass in der Strafverfolgung und in der politischen Debatte Taten geahndet werden, nicht Herkunft.