Thorsten Klute als Redner im Parkstadion in Versmold

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr verehrte Gäste,

ich freue mich, den heutigen 1. Mai mit Ihnen gemeinsam im Versmolder Parkstadion verbringen zu dürfen. Der 1. Mai 2004 ist kein gewöhnlicher Maifeiertag. Heute treten mit Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, der Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern 10 neue Staaten der Europäischen Union bei.
Erinnern wir uns. Nach Jahrzehnten der Teilung unseres Kontinents in Folge des Zweiten Weltkriegs gingen 1989 im Osten Deutschlands immer mehr Menschen für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte auf die Straße. Mit friedlichen Mitteln, mit der Kraft der Worte, rissen sie Mauern und Stacheldrähte ein. Die logische und durch nichts aufzuhaltende Konsequenz der damaligen Ereignisse in Leipzig, Dresden, Berlin und anderswo war die Vereinigung der Bundesrepublik Deutschland mit der DDR. Deutschland und Deutschland – das gehört einfach zusammen. „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“, hatte Willy Brandt die Vorgänge damals in nicht zu übertreffender Prägnanz beschrieben.
Doch Mauer und Stacheldraht trennten nicht nur Deutschland von Deutschland, sondern auch Europa von Europa. Ebenso wie die Deutschen in Eisenach und Rostock von ihren Landsleuten in Hannover und München abgeschnitten waren, lebten auch die Europäer in Bratislava und Warschau getrennt von den Europäern in Paris und Amsterdam auf einem in Ost und West geteilten Kontinent. Große und starke Bewegungen wie die schon legendäre polnische Gewerkschaft Solidarność, die Hand in Hand mit der Kirche für Demokratie und Menschenrechte betete und kämpfte, haben einen erheblichen Anteil an der friedlichen Revolution zum Ende des inzwischen vergangenen Jahrhunderts.
Und so war es auch im Falle der mittelosteuropäischen Reformstaaten eine logische Konsequenz, dass die Menschen in Budapest, Riga und Ljubljana, die sich immer zu Europa zugehörig gefühlt hatten und deren europäische Identität bei uns im Westen des Kontinents vielleicht schon ein wenig in Vergessenheit geraten war – so war es eine logische Konsequenz, dass die Menschen dort das Schlagwort von der „Rückkehr nach Europa“ entwickelten.
Stellvertretend für die Hoffnungen und Gefühle der Menschen in den heute nach einem langen und mit harten sozialen Einschnitten verbundenen Anpassungsprozess der Europäischen Union beitretenden Staaten möchte ich Teile eines Kommentars des polnischen Intellektuellen Adam Michnik vorlesen. Michnik, der in den Achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als in Polen der Kriegszustand ausgerufen wurde, als Untergrundpublizist tätig war und aufgrund seines Einsatzes für Freiheit und Menschenrechte vorübergehend inhaftiert wurde, ist heute Chefredakteur der größten polnischen Tageszeitung, der von ihm gegründeten Gazeta Wyborcza. Am 14. Dezember 2002 kommentierte Michnik die Ereignisse des Europäischen Gipfeltreffens von Kopenhagen, als die Beitrittsbedingungen endgültig festgezurrt wurden. Das Gipfeltreffen hatte am 12. und 13. Dezember 2002 stattgefunden. Gerade der 13. Dezember ist in der polnischen Geschichte ein ganz besonderes Datum, weil die kommunistische Regierung am 13. Dezember 1981 nach dem immer weiter anhaltenden Aufstieg der Solidarność das Kriegsrecht ausrief. Michnik kommentierte die Kopenhagener Ereignisse des 12. und 13. Dezember 2002 mit folgenden Worten:
„…Gewöhnlich meiden wir den Pathos, hier hingegen sagen wir mit von Ergriffenheit und Hoffnung erfüllter Stimme: In Polen, unserem Vaterland, ist etwas sehr Gutes geschehen. Wir sind im demokratischen Europa. Es ging der Traum einiger Generationen von Polen, die beharrlich mit den Köpfen die Mauern der totalitären Diktaturen durchschlugen, in Erfüllung.(…)
Wir danken allen, die dazu beigetragen haben – das ist unser gemeinsamer Erfolg, ein Erfolg der gesamten polnischen Demokratie. Für uns, die Menschen der früheren demokratischen Opposition, ist das die wahre Vollendung des Augusts des Jahres 1980, des Komitees der Arbeiterverteidigung und der Solidarność. Für unsere damaligen Gegner ist das die Bestätigung des Sinns der Wahlen aus den Zeiten des Runden Tischs, als sie die Welt der Diktatur zu Gunsten der Logik der Demokratie wegwarfen.
Das, was vor 20 Jahren unvorstellbar war, wurde Realität. Der 13. Dezember – Symbol des Dramas des Kriegszustandes – wird zum Symbol der Freude und des Erfolgs.“
Heute ist es soweit. Das über Jahrzehnte geteilte Europa wird nun auch formal zumindest zu einem großen Teil wiedervereint. Doch die Erweiterung stellt die Europäischen Union auch vor gewaltige Schwierigkeiten. Nicht alle Bürger der Beitrittsstaaten freuen sich so über das heutige Ereignis wie der eben zitierte Adam Michnik. In den neuen Mitgliedstaaten gibt es auch viele Ängste vor der ungewissen Zeit nach dem 01. Mai 2004. Da gibt es zum Beispiel die Befürchtungen vor dem Verlust der nationalen Identität.
Und auch bei uns in Deutschland bestehen Existenzängste. Die Jahrzehnte der Teilung haben ihre Spuren hinterlassen. Die Menschen in Mittelosteuropa arbeiten zu deutlich schlechteren, insbesondere finanziell schlechteren Bedingungen als die Menschen hier in Deutschland oder in Österreich. Bei uns gibt es große Befürchtungen vor einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit aufgrund eines Zustroms von billigen Arbeitnehmern aus dem Osten. Um diesen Befürchtungen entgegenzukommen, hat sich die Bundesregierung für bis zu sieben Jahre dauernde Übergangsfristen stark gemacht. In diesem bis zu sieben Jahre dauernden Zeitraum können Arbeitnehmer aus den Beitrittsstaaten weiterhin nur unter den bisher schon geltenden, erschwerten Bedingungen in Deutschland beschäftigt werden. Es ist davon auszugehen, dass diese Sieben-Jahres-Frist in Deutschland und auch in Österreich vollständig ausgeschöpft wird.
Aktuell diskutiert werden auch Befürchtungen vor einem weiteren Arbeitsplatzverlust durch Betriebe, die ihre Produktionsstätten in Billiglohnländer verlagern. Die Befürchtungen sind nicht immer unbegründet. Nicht alle der im Ausland tätigen Unternehmen eröffnen ihre Standorte mit dem im Kern zu begrüßenden Ziel der Erschließung weiterer Märkte. Manchen geht es schlicht und einfach um die Senkung von Lohnkosten. Doch ist dieses kein Prozess der Osterweiterung, sondern ein Prozess der Globalisierung. Es ist heute ohne unüberbrückbare Schwierigkeiten möglich, seine Produktionsstätten in Länder außerhalb Europas zu verlagern. Die heute neu geschaffenen EU-Außengrenzen bilden dabei lange keine Barriere mehr. Länder wie Moldawien und die Ukraine, die nicht zur EU gehören und in denen noch viel geringere Löhne als in Tschechien gezahlt werden, sind für viele Unternehmen attraktive Standorte geworden. Man kann diesen Globalisierungsprozess beklagen, aber man kann ihn nicht ohne Weiteres ändern. Wir müssen uns darauf einstellen. Und vielleicht bietet gerade auch das erweiterte Europa, von dem übrigens kaum ein Staat handelspolitisch so sehr profitiert wie Deutschland, aus sozialpolitischer Sicht neue Chancen. Das größere Europa könnte ein Wirtschaftsraum werden, in dem die Politik wieder eine Chance bekommt, sogar „die Chance eines globalen Rahmens für die globalisierte Wirtschaft“, um mit den Worten Erhard Epplers zu sprechen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sich Europa nicht mehr nur ausschließlich über den Binnenmarkt definiert, sondern zunehmend auch soziale Aspekte in den Mittelpunkt stellt, also zu einer Sozialunion wird.
Eine weitere mit der heute vollzogenen Erweiterung der Europäischen Union einhergehende Befürchtung ist die Angst vor einer instabileren europäischen Außenpolitik. Mehr Mitgliedstaaten bedeuten auch mehr Meinungen und vielleicht auch weniger Chancen zu gemeinsamen Haltungen in der Außenpolitik zu gelangen. Der noch immer hochaktuelle Irakkonflikt ist ein Beispiel dafür. Heute vor einem Jahr landete George W. Bush auf einem Flugzeugträger und verkündete das Ende der Kampfhandlungen im Irak. Dem Angriff auf den vom Diktator Saddam Hussein geführten Irak war ein außenpolitisch gespaltenes Europa vorausgegangen. Das vom US-Amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld geprägte Wort vom „alten und neuen Europa“ machte die Runde. Auch viele der neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union waren der Irakpolitik von George W. Bush gefolgt. Polen hatte sogar eine symbolische Einheit von 200 Soldaten in den Irak geschickt und anschließend die Verwaltung einer Zone übernommen. Von einer Chance für Polen war damals in den polnischen Medien die Rede.
Deutschland und Frankreich hatten diesen Weg, wenn auch vielleicht aus unterschiedlichen Motiven, nicht unterstützt. Ich kann nicht verheimlichen, dass ich damals, als die Frage der Notwendigkeit eines Angriffs auf den Irak auf der Tagesordnung der Weltpolitik stand, ein wenig stolz auf unsere Bundesregierung war. Es war die von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer geführte Regierung, der die vorgelegten Beweise zum Besitz von Massenvernichtungswaffen im Irak nicht ausreichten.
Heute wissen wir, dass der Welt nicht die Wahrheit gesagt wurde, als Collin Powell in einer Power-Point-Präsentation im UN-Sicherheitsrat schwere Vorwürfe gegen den Irak erhob. Ich möchte auf keinen Fall den fürchterlichen Diktator Saddam Hussein entschuldigen. Der Verlust seiner Macht war ein Gewinn für die Welt. Ohne ein Konzept für den Nachkriegsirak – und das zeichnet sich heute leider ab – wird die Welt jedoch nicht sicherer, sondern unsicherer.
Darum – und das ist ein weiterer wichtiger, vielleicht sogar der wichtigste Punkt für das erweiterte Europa – darum muss Europa endlich zu einer Friedensmacht werden. Dieser Kontinent, der im vergangenen Jahrhundert so schreckliche Erfahrungen mit Kriegen gemacht hat, muss sein ganzes Gewicht bei der friedlichen Lösung internationaler Konflikte einbringen. Europa muss in der Außenpolitik mit einer einheitlichen europäischen Stimme sprechen. Dafür braucht Europa eine außenpolitisches Gesicht, das für mich durch einen europäischen Außenminister repräsentiert wird. „Frieden ist nicht alles“, sagte Willy Brandt einmal, „aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Lasst uns – liebe Gewerkschafter, die Ihr in Eurer Geschichte immer auf der Seite des Friedens standet – lasst uns für ein einiges und starkes Europa einsetzen, damit das erweiterte Europa den Frieden gewinnt.